Der Kunstbegriff und seine drei Bestandteile: Theorie, Praxis, Poiesis

Künstlergespräch mit Ingo Nussbaumer Teil 4

Mit:
Ingo Nussbaumer . Nina Gospodin
Aufgenommen am 08.05.2016 | Zuerst publiziert am 04.08.2016 auf www.dusagst.es

Im Folgenden findest du meine Lieblingspassagen aus dem Gespräch. Die Transkription wurde zum Teil gekürzt und zusammengefasst, um die Lesbarkeit zu verbessern.

Nina Gospodin | Wie bist du eigentlich auf die drei Bestandteile des Kunstbegriffs gekommen?

Ich habe dich ja kennen gelernt als du einen Vortrag gehalten hast an der Universität für angewandte Kunst in Wien. Du hast vor zwei Jahren angefangen da einen Kurs zu geben, den ich zwar noch nicht ganz besucht habe, aber zumindest ab und zu mal reingeschnuppert habe und da hast du immer so eine Stunde oder anderthalb Stunden ein bisschen einfach etwas erzählt

zum Kunstbegriff zum Beispiel oder zu den Farben, Farbtheorien. Ich fand das total spannend, weil du versucht hast, mal so ein bisschen zu umreißen, was Kunst eigentlich für unterschiedliche Bedeutungen haben kann, mit welchen Begriffen da hantiert wird, welche Bedeutung dem zugewiesen wird und wo das eigentlich alles herkommt.

Du hast in dem Vortag vom Kunstbegriff geredet und von den drei Bestandteilen, aus denen er sich das zusammensetzt und da habe ich nur so gedacht: „Wie bist du eigentlich dazu gekommen?“ Weil ich habe das so zusammengefasst noch nirgendwo gelesen.

Ingo Nussbaumer | Es ging um diese drei Begriffe von THEORIE, PRAXIS und POIESIS. Ist das richtig?

So eine Zusammenfassung gibt es ja auch nicht soweit ich weiß. Wir können gerne darauf zu reden kommen.

Nina Gospodin | So ist es.

Ingo Nussbaumer | Erklärung von Theorie, Praxis und Poiesis als Bestandteile des Kunstbegriffs

Diese drei Begriffe, die gibt es ja schon seit der Antike. Also seit den Griechen findet sich auch diese Einteilung der Wissenschaften bei Platon.Theorie, Praxis und Poiesis: lustigerweise ist der dritte Begriff der Poiesis verloren gegangen, sage ich jetzt mal so. Ich meine, er wird zwar jetzt neuerdings wieder bearbeitet von einigen Denkern oder Philosophen. Man sieht aber, dass das ein Begriff ist oder ein Feld ist, das ein bisschen verschwunden ist aus der Geschichte, weil man nur von diesem Theorie-Praxis-Problem und so weiter redet. Aber die Antike hatte eben noch diesen dritten Begriff der Poiesis. Ich sage jetzt mal, was das so bedeutet: Herstellen, Machen - wäre auch ein Beispiel was da hineinfällt.

Letzten Endes kann man alles unterteilen in Theorie, Praxis und Poiesis. Das ist eine Einteilungsmöglichkeit. Auch in der Naturwissenschaft gibt es so was wie einen theoretischen Teil, einen praktischen Teil und einen poetischen Teil. Der poetische wäre der hervorbringende Teil. Das wäre in diesem Fall die Technik, denn die Technik bringt bestimmte Dinge hervor. Das ist auch der Kreativteil unter Anführungszeichen, weil natürlich ist Theorie auch kreativ. Das ist ja keine Frage, aber jetzt wo es sich niederschlägt, auch manifestiert, physisch manifestiert, da wäre die Technik jetzt das Pendant zu dem, was die Kunst sozusagen hervorbringt an Werken.

 In der Geisteswissenschaft ist eben die Frage: Was ist das Werk der Geisteswissenschaft? Ist eigentlich nicht ganz genau geklärt in der Auseinandersetzung. Ich finde, dass der Begriff der Erziehung, den man in der Aufklärung speziell einführt, ein bisschen das schildert,

worum es geht. Die Erziehung zum freien und mündigen Menschen. Da gibt es tatsächlich einen Unterschied zwischen dem Werk der Naturwissenschaft und dem Werk der Geisteswissenschaft. Wo es eben um den Freiheitsbegriff geht, wo der mündige Mensch, der selbstständige, selbstverantwortliche, mündige Mensch das Ziel auch darstellt. Und der unterscheidet sich insofern vom technischen Werk, weil ein technisches Werk sich daraus auszeichnet, dass es funktionieren muss.

Wenn eine Uhr nicht funktioniert, na ja, dann hat sie ihren Dienst getan - ein Radio, Fernseher genauso. Der Begriff der Funktion ist ganz streng gekoppelt mit dem technischen Werk. In dem Moment, wo die Funktion nicht mehr gegeben ist, es nicht mehr funktioniert - reparaturbedürftig oder überhaupt kaputt ist - wird es vielleicht ein ästhetisch interessantes Objekt unter Umständen. Ein altes Radio kann ja noch ästhetisch hoch interessant sein. Das heißt, die Funktion ist dann nur noch ein sekundärer Aspekt.

Aber der entscheidende Punkt ist: beim freien und mündigen Menschen, der sollte eben nicht funktionieren, wie die Gesellschaft das gerne hätte. Der sollte eben selbstständig frei entscheiden können, was richtig und was falsch ist und auch die anderen frei lassen können. Das ist auch ein entscheidender Punkt. Dadurch unterscheidet sich das technische Werk, sage ich jetzt mal, vom erzieherischen Werk.

Hier spielt natürlich dann Selbsterziehung auch noch eine Rolle. Das heißt, Erziehung wird zunächst vermittelt, an den Unis weitergetragen, sage ich jetzt mal, oder 

bestimmten Erziehungssystemen, Bildungssystemen weitergetragen, aber letzten Endes muss der oder die das übernehmen und selbstständig sozusagen weiterentwickeln. Dann ist Selbsterziehung zur Freiheit sozusagen auch nochmal eine eigene Kategorie. Das wäre so dann das Ziel der Geisteswissenschaft, wo es auch um politische Freiheit und die Freiheit in der Gesellschaft, um all diese Dinge geht und wo der Begriff des Funktionierens eher untergeordnet ist. Natürlich müssen bestimmte Dinge funktionieren, damit sie sich sozusagen auch behaupten können. Damit sie auch eine dienende Funktion in dem Ganzen ausüben können, aber es wäre schrecklich, wenn der Mensch sozusagen wie ein Rädchen im Getriebe wäre und dann nur wie ein Teilchen in einem technischen Werk funktioniert und vernichtet wird, sobald es nicht funktioniert. Also ausgetauscht wird und weggeworfen wird.

Und genau das, diese unterschiedliche Begrifflichkeit, die ist mir ein großes Anliegen. Die Kunst bewegt sich jetzt genau in der Mitte. Man könnte sagen, sie wäre etwa zwischen diesen beiden Extremen anzusiedeln, weil die Funktion manchmal nur eine Scheinfunktion ist. Das heißt, man baut sozusagen ein System auf, das so tut als würde es funktionieren, aber es ist keine handfeste technische Funktion, sondern es spielt eher damit. Das heißt, hier strömt so was wie eine Freiheit in dieses Funktionieren ein. Und natürlich muss ein Bild funktionieren. Wir sagen ja auch: Ein Bild muss funktionieren. Muss stimmen. Muss schlüssig irgendwo sein und so weiter. Aber diese Schlüssigkeit ist eben nicht eine rein technische Schlüssigkeit. Und da spielen eben andere Kategorien noch hinein.

Nina Gospodin | Aber wie kam es nochmal zu dieser Geschichte von den Begriffen: Theorie, Praxis und Poiesis? Wo kommt das her, wie kam das zustande?

Ingo Nussbaumer

Das ist eigentlich eine alte Einteilung und eine alte Überlegung. Die alten Philosophen Platon und Aristoteles wären jetzt mal die Hauptvertreter dieses Konzeptes. Also THEORIE im Altgriechischem heißt eher BETRACHTEN. Wobei man da unter BETRACHTEN auch das gedankliche Anschauen und Betrachten verstanden hat. Man schaut die Dinge eben theoretisch

an, ohne dass man jetzt selbst in diese Dinge verwickelt wäre. Man versucht sich herauszuziehen und aus einer gewissen Distanz heraus Dinge zu beurteilen. Um zu sehen, ob hier auch bestimmte eigene Mechanismen tätig werden, die sozusagen uns zu bestimmten Vorstellungen führen. Auch Widerspruchsfreiheit und all diese Begrifflichkeiten, die heute in der Wissenschaft 

sehr üblich sind, Konsistenz und all diese wissenschaftstheoretischen Zusammenhänge. Die spielten in diesem Theoriebegriff eine Rolle. Aber ursprünglich bedeutet es eben Betrachten, gedankliches Betrachten und Entwickeln von Theorien, Entwickeln von Begriffen oder von Thesen und so weiter und so fort.

Nina Gospodin | Dass man versucht einfach etwas zu begreifen, in dem man es beobachtet, oder? Gedanklich.

Ingo Nussbaumer | Poiesis betrifft den Werkbegriff

Gedanklich beobachtet, ja. Naturwissenschaft geht auch von empirischen Hintergründen aus natürlich, aber egal. Das ist der theoretische, rein theoretische Bereich. Der wurde damals sehr, also von Aristoteles, sehr überbetont. Auch verständlich historisch, weil es natürlich sozusagen die erste große Theorie war, oder theoretische Linie war. Die Wissenschaft hat sich herausgebildet als Begriff, überhaupt wurde die mal sozusagen fassbar.

Die PRAXIS wurde auch als sehr bedeutend angesehen und spielt natürlich mit dem Begriff des HANDELNS. Praxis hängt mit Staatsbildung, Politik und so weiter zusammen, aber natürlich auch generell ganz allgemein mit Ausübung. Also man übt irgendetwas aus und gerät

natürlich dadurch in ein Praxisproblem. Wie handhabt man etwas? Wie bewältigt man etwas? Das sind praktische Fragen, die man sich stellen muss und die man sich sozusagen auch beantworten muss bis zu einem gewissen Grad. Also der Begriff der Handlung spielt hier eine Rolle während in der Theorie der Begriff der Erkenntnis mehr im Vordergrund steht.

Und jetzt fällt eben ein Bereich heraus. Das ist das Interessante. Nämlich der Begriff der Hervorbringung, der Poiesis. Und worum geht es bei diesem Begriff? Der Aristoteles schildert das schon so, dass es eigentlich in erster Linie um den Werkbegriff geht. Man versucht hier ein Werk zu bilden. Es ist nicht Handlung, nicht nur Ausübung von etwas, sondern man versucht sozusagen

auch etwas zu manifestieren. Das hervorgebrachte Werk steht eben hier im Zentrum dieser Begrifflichkeit. Und jede Kunst bringt etwas hervor. Natürlich nicht nur jede Kunst, sondern auch wie vorher schon besprochen haben: Ein technisches Werk ist ja auch ein Werk. Aber eben es funktioniert auf einer ganz bestimmten Ebene. Die Poiesis deckt diesen Begriff, deckt dieses Feld im gewissen Sinne ab. Sie ist eben dasjenige, das vom Menschen Hervorgebrachte, selbstständig Hervorgebrachte. Jetzt kann man sich natürlich noch detailliertere Fragen stellen, worin unterscheiden sich die einzelnen Werke oder worin unterscheiden sich die einzelnen Hervorbringer?

Nina Gospodin | Und wieso ist es so verloren gegangen, also? Wo ist das hin?

Nina Gospodin | Artes Liberalis und Artes Mechanicae

Im Mittelalter gab es ja interessanterweise diese Einteilung zwischen den ARTES LIBERALIS und ARTES MECHANICAE. Das ist im Grunde genommen, könnte man jetzt versimpelt sagen, die Einteilung zwischen Theorie und Praxis.

Auf der einen Seite hast du sozusagen die freien Künste - Artes Liberalis. Mit diesem Begriff hat man natürlich auch Wissenschaftsbereiche umfasst wie Mathematik, wie Musik interessanterweise. Das heißt, das wurde sozusagen eher als höher angesehen.

Die Artes Mechanicae, das waren die handwerklichen Künste, also die handwerksorientierten Künste. Da gehört die Malerei interessanterweise dazu. Man hat da

auch ein hierarchisches System gehabt und die waren praxisorientiert, die waren praktisch ausgerichtet. Ein Steinmetz musste bestimmte praktische Dinge erledigen können, ein Haus bauen können und das klopfen können. Während die Musiker sozusagen eher in den höheren Gefilden lebten, auch mit mathematischen Prinzipien mehr zu tun hatten oder Astronomie und so weiter. Während die freieren Künste eher die theoretischeren Künste waren, waren auf der anderen Seite die handwerklichen Künste die praktisch orientierten Künste.

Ich glaube, dass im Mittelalter, in diesem zwei geteilten System dieser dritte Aspekt verloren gegangen ist. Den hat man sich dann interessanterweise mit dem

Herausbilden der Akademien für die bildende Kunst begonnen zurückzuerobern. Allerdings mehr um gesellschaftlich eine bedeutendere Stellung zu bekommen, weil die Maler wurden nur als Handwerker angesehen. Das heißt, sie hatten eine niedrigere Position als die Akademiker. Und jetzt hat man eben die Akademie in der Aufklärung beispielsweise gegen die Manufaktur gestellt.

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